Kloster Triefenstein
»Wir sind im Paradies gelandet«

Wie internationale »Christusträger-Beziehungen« eine kleine Familie aus der Ukraine in die Sicherheit von Kloster Triefenstein begleiten konnten.

Ankunft in Triefenstein – © Br. Uwe Stodte 2022

Ankunft in Triefenstein – © Br. Uwe Stodte 2022

Tatjana ist 30 Jahre jung, verheiratet, Mutter des zwei Jahre alten David. In ihrem Heimatort Mikolaev in der Südukraine hört sie am 24. Februar heftige Explosionen. Stunden nach Kriegsbeginn greifen russische Truppen einen Militärflugplatz in ihrer Nähe an.

Wenige Tage später entdeckt Tatjana morgens um 5 Uhr: Praktisch ihr gesamter Heimatort ist umzingelt von russischen Panzern. Zur Flucht bleibt nur ein kleiner Korridor über eine Brücke. Sie weiß: Wenn sie nicht sofort über diese Brücke flieht, wird sie die Stadt nicht mehr verlassen können. In aller Eile rafft sie ein paar Sachen zusammen und eilt los, gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Sohn David und ihre Mutter Olga. Über die Brücke in die vorläufige Sicherheit. Ein paar Tage noch hält sich die Familie im Heimatdorf von Olga auf. Doch weil die Explosionen immer näher kommen, steht fest: Sie müssen weiter fliehen. Und dabei Tatjanas Ehemann zurücklassen, weil Männer für die Verteidigung des Landes gebraucht werden und die Ukraine nicht verlassen dürfen.

In dieser Phase, am 14. März trifft bei mir in Triefenstein eine dringende Audiobotschaft von Schwester Vreni aus Jujuy/Argentinien ein. Vreni hat gelesen, dass wir demnächst von Triefenstein aus einen Hilfstransport ins rumänische Braşov (= Kronstadt) schicken werden. In einem Notaufnahmelager kümmert man sich dort rührend um Flüchtlinge aus der Ukraine. Wir wollen diese Arbeit mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Bettzeug und anderen Hilfsgütern unterstützen. Und möglicherweise auf der Rückfahrt Flüchtlinge mitnehmen und bei uns im Kloster Triefenstein unterbringen.

Vreni hat davon erfahren. Und an Katherina gedacht, eine Frau mit ukrainischen Wurzeln, die Jahre lang das Kinderheim in Jujuy (in dem Vreni sich um Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen kümmert) mit Lieferungen von Brot beschenkte. Jetzt ist Katherina in größter Sorge um einige Verwandte in ihrer alten Heimat Ukraine. Und so fragt Vreni bei uns nach: Könntet ihr vielleicht Katherinas Verwandten bei Euch im Kloster aufnehmen?

Selfie mit Christiane Lorenz in Rumänien – © Christiane Lorenz 2022

Selfie mit Christiane Lorenz in Rumänien – © Christiane Lorenz 2022

Ein paar Fragen hin und her zwischen den Kontinenten, dann ist klar: Tatjana und ihre Familie müssten im Grunde „nur“ rund 500 km weit reisen. Dann wären sie im rumänischen Braşov und könnten dort unseren Transport erreichen. Aus der Ferne geleitet von ihrer Cousine Katherina, die wiederum die Informationen von Vreni bekommt, die mit mir in Kontakt ist, der mit der in Rumänien aktiven Diakonin Christiane Lorenz die Lage vor Ort klärt. Ein internationales »Rettungsgeflecht« versucht die Flucht zu koordinieren, auf spanisch, ukrainisch, russisch und deutsch. In Argentinien, Rumänien und Deutschland wird währenddessen intensiv um Bewahrung für die kleine Familie gebetet.

Die drei ziehen gleich am nächsten Morgen los: Mit dem Auto von dem Dorf, in dem sie vorübergehend Zuflucht gefunden haben, etwa zwei Stunden lang in die Stadt Odessa. Wir jubeln als wir erfahren: Keine Bombardierungen unterwegs, alles gut gegangen auf der ersten Reiseetappe.

Dann von Odessa aus mit einem Rot-Kreuz-Transport bis nach Moldawien. Wir jubeln noch lauter, die drei konnten das Kriegsgebiet ohne Störungen verlassen. In Moldawien werden sie in einem provisorischen Flüchtlingscamp untergebracht. Dort erleben sie eine bitterkalte Nacht in einem Zelt; es fehlt an Decken, um den kleinen David wirklich warm zu bekommen. Weiter geht es am nächsten Morgen, wieder mit einem Bus, diesmal bis zur rumänischen Grenze.

Innerhalb relativ kurzer Zeit landen die drei also durchgefroren, ängstlich aber wohlbehalten in Rumänien. Unsere Kommunikationslinie zwischen Braşov, Triefenstein und Jujuy glüht, wir freuen uns alle mit. Ein wenig zu früh, wie sich herausstellt. Die beiden Frauen haben jetzt offensichtlich den Mut und die Orientierung verloren. Sie steigen in falsche Busse, bewegen sich im Kreis, trauen sich nicht nach Braşov. Gerüchte und Warnungen bringen sie durcheinander. Verzweifelte Anrufe landen nicht mehr bei ihnen – der Akku des Handys ist leer. Was tun? Beten, was sonst.

Schließlich gute Nachrichten aus Rumänien: Tatjana, Olga und David sind in Bukarest gelandet, in einem Aufnahmelager für Flüchtlinge. Von dort aus begleiten einige freiwillige Helfer sie zum Bahnhof. Kaufen ihnen ein Ticket. Fotografieren dieses Ticket. Schicken es Christiane Lorenz in Braşov. Die leitet das Foto an mich. Ich wiederum reiche es voller Dankbarkeit nach Jujuy weiter. Hoffentlich steigen die drei jetzt nicht am falschen Bahnhof aus…

Erleichterung Stunden später: Christian Lorenz schickt ein Selfie, aufgenommen vor dem Bahnhof in Braşov. Darauf zu sehen sie selbst. Und die kleine Familie aus der Ukraine. Endlich! Mir fällt ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Die Verwandtschaft in Argentinien feiert, weint, freut sich, schickt Küsse und Herzen via Internet.

Glücklich im Hof des Klosters – © Br. Uwe Stodte 2022

Glücklich im Hof des Klosters – © Br. Uwe Stodte 2022

Drei Tage lang können die Reisenden sich in der Wohnung von Familie Lorenz in Braşov (= Kronstadt) etwas erholen. Am 19. März kommt unser Transport aus Triefenstein an. Die drei nehmen all ihren Mut zusammen und steigen ein, als sich die Busse am 20. März auf den langen Weg nach Deutschland machen. Mit einem sehr mulmigen Gefühl, wie sie später eingestehen. Eine therapeutisch geschulte ehrenamtliche Mitarbeiterin kümmert sich die ganze Fahrt lang um sie. Die beiden Frauen und auch David scheinen am Ende ihrer Kräfte zu sein.

Und dann sind sie da, endlich. In Triefenstein. Am Montag, dem 21. März, in der frühlingshaften warmen Nachmittagssonne. In Sicherheit. In gemütlicher Atmosphäre. Bei Menschen, die es gut mit ihnen meinen. Hier können sie zur Ruhe kommen, auftanken, Kraft schöpfen.

Nach einem Gottesdienst am Abend des 27. März schreibt Olga mir mit Hilfe eines Übersetzungsprogramms: „Danke für alles, danke für das Gebet für die Ukraine, die schöne Musik und die wunderbaren Worte“.

Einen Tag später, acht Tage nach der Ankunft in Triefenstein, erzählt Tatjana selbstbewusst und fröhlich einer Journalistin der Regionalzeitung die Geschichte ihrer Reise. Sie gibt zu, dass sie anfangs voller Angst war, was ihnen in Deutschland alles zustoßen könnte. Dass sie es sich niemals hätte vorstellen können, von wildfremden Menschen so freundlich aufgenommen zu werden. Als ob sie zur Familie gehören würde. Dass sie sich für ihre Angst heute fast ein wenig schämt.

„Wie geht es Dir jetzt hier im Kloster?“ will die Journalistin wissen. Tatjana strahlt:

Ich könnte den ganzen Tag über Dankeschön sagen. Immer wieder Dankeschön zu jedem Menschen, der uns hier geholfen hat und hilft. Meiner Mutter geht es gut. David taut immer mehr auf. Seit gestern lächelt er wieder, wenn er seinen Papa in der Ukraine am Telefon hört. Wir fühlen uns hier so, als seien wir im Paradies gelandet.

— Christoph Zehendner, 29. März 2022